Domschatz Hildesheim, © TourismusMarketing Niedersachsen GmbH
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Be­such im UNESCO-Welt­kul­tur­er­be in Hil­des­heim


Licht und freundlich ist der Hildesheimer Dom nach seiner Renovierung geworden – ein Ort für die Menschen von heute. Die einzigartigen mittelalterlichen Kirchenschätze der Stadt kommen seitdem noch besser zur Geltung. Es macht Freude, dort zwischen Gegenwart und Vergangenheit spazieren zu gehen …

Der Mann war hochgebildet und innovativ. Und er wusste, wen man fragen musste, wenn man etwas Außergewöhnliches haben wollte. In diesem Fall war das eine kunstvolle Bronzetür, die den Dom schmücken sollte. Bischof Bernward hat sie in Auftrag gegeben und 1015 der Stadt gestiftet. Mehr als 1000 Jahre später – der Mann ist längst heilig gesprochen – steht man staunend vor dieser Bernwardtür, wie sie heute heißt. 16 biblische Szenen sind auf den beiden fast fünf Meter hohen Flügeln zu sehen, die jeweils etwa 1,8 Tonnen wiegen und aus einem Guss sind: die Erschaffung des Menschen, Schuld und Sünde, schließlich die Erlösung des Menschen durch Jesus´ Geburt und der Besuch der Heiligen Drei Könige im Stall sind einige der Themen. Ein weiter erzählerischer Bogen wird gespannt, in dem die Orte nur flache Reliefs sind, während die Figuren skulptural hervortreten. Fast modern wirkt die doppelflügelige Tür, ausdrucksstark, wie aus der Zeit gefallen. Ihre Herstellung jedenfalls wäre auch heute noch eine technische Herausforderung, und wer der Künstler war, der das vollbracht hat, weiß man nicht. Das bleibt Bernwards Geheimnis. Zu den wichtigen kirchlichen Festen wird die Tür geöffnet, dann betreten die kirchlichen Amtsträger durch sie den Dom. Der normale Eingang ist heute aber eine kleine, eher unscheinbare Seitentür.

Schät­ze von Welt­rang


Einzigartige Kunstwerke wie die Berndwardtür oder die ebenfalls von jenem Bischof in Auftrag gegebene Christussäule, das später entstandene bronzene Taufbecken oder die riesigen Leuchter im Hauptschiff der Kirche waren ausschlaggebend dafür, dass der Dom, die Michaeliskirche und der Domschatz in Hildesheim schon 1985 zum Weltkulturerbe der Unesco ernannt wurden. Claudia Höhl, Direktorin des Dommuseums und Domkustodin, ist zuständig für die Ausstellung der kirchlichen Kunstschätze in Hildesheim. Sie sagt: „Beim Weltkulturerbe geht es ja nicht alleine um historische Bildung, sondern immer auch um die Frage, wie uns Zeugnisse von einst heute noch berühren können. Im Hildesheimer Dom gelingt dies, weil die Kunstschätze so einzigartig sind – und der sie umgebende Raum so licht und radikal schlicht.“ Dafür verantwortlich zeichnet das Kölner Architekturbüro Schilling, das den Dom samt den dortigen Ausstellungsräumen vor wenigen Jahren saniert und umgestaltet hat. Der ursprünglich im 9. Jahrhundert erbaute und 1945 fast vollständig zerstörte Dom ist innen modern geworden, nun ganz reduziert auf die Materialien Sandstein, Stahl und Eichenholz.

Ra­di­kal mo­der­ne Re­no­vie­rung


„Als die Renovierung des Doms anstand“, berichtet Claudia Höhl, „da haben wir uns in Hildesheim gefragt: Wollen wir die historischen Räume nur etwas aufhübschen und technisch auf Stand bringen? Was ist denn eigentlich unser Ziel? Und schnell war klar, dass wir mehr wollten, dass hier Räume für die Menschen des 21. Jahrhunderts entstehen sollten – nicht nur für Gläubige, sondern auch für Reisende, Kulturinteressierte und Ruhesuchende. Kirchenräume sind für mich immer auch Freiräume, die eine gewissen Distanz zur Konsumwelt und zu unserem Alltag draußen haben.“ Höhl findet solche Brücken zwischen dem Mittelalter und heute besonders spannend, hilft gerne, sie zu bauen. Herzensangelegenheit der Kunstexpertin ist es, immer wieder überraschende Ausstellungen mit und rund um die mittelalterlichen Schätze zu gestalten, die sie in ihrer Obhut hat –  „die Kunstwerke zu befragen“, wie sie das nennt. So lassen sie sich mit unseren heutigen Fragen verknüpfen, können sie vertiefen oder gar Antworten geben. Noch bis Anfang Februar gibt es im Dommuseum eine Ausstellung zum Thema „Frauenwelten“, ab September 2022 eine mit dem Titel  „Islam in Europa. 1000–1250“.

Wer Hildesheim besucht, der findet übrigens viele wichtige Kulturstationen fußläufig voneinander entfernt: Neben Dom, Dommuseum und Michaeliskirche ist dies die Altstadt mit einer multimedialen Ausstellung zum UNESCO-Weltkulturerbe Hildesheim in der Tourist-Information am Marktplatz oder das Roemer- und Pelizaeusmuseum, das eine wertvolle Sammlung ägyptischer Kunst zeigt (es trägt seinen Namen nicht wegen der alten Römer, sondern wegen eines gewissen Hermann Roemer, Jurist und Geologe, der das Museum 1844 gegründet hat). Auch dort gibt es regelmäßig Sonderausstellung zu aktuellen Themen, noch bis 1. Mai 2022 zum Beispiel eine zum Thema „Seuchen. Fluch der Vergangenheit – Bedrohung der Zukunft“.

Gott wird Mensch


Ob Hildesheim heute so klug und spielerisch Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart knüpft, weil die Stadt 1945 bei einem schweren Bombenangriff in Schutt und Asche gelegt wurde? Die Stadt entschied sich damals, Dom und Michaeliskirche sowie die Gebäude rund um den Marktplatz wieder aufzubauen, obwohl viel alte Bausubstanz unwiederbringlich verloren war. Wie man architektonisch das Beste aus solchen baugeschichtlichen Wunden macht, das  erleben Gäste heute im Dom. Wie man gedanklich in die Welt vor 1000 Jahren reisen kann, das erzählt Claudia Höhl immer wieder gerne. „Mein Lieblingsobjekt“, so sagt sie eben, „ist die goldene Madonna im Dommuseum. So richtig erklären kann ich das nicht, aber mich berührt das Thema: Maria und das Jesuskind verkörpern ja etwas, was unseren Verstand total übersteigt, was wir uns heute noch schwerer vorstellen können als frühere Gesellschaften – nämlich die Menschwerdung Gottes. Ich schaue mir auch gerne an, wie man vor 100 Jahren den Menschen und seine Körperlichkeit künstlerisch dargestellt hat. Außerdem ist die Geschichte dieser romanischen Skulptur einfach besonders. Im 17. Jahrhundert haben die beiden Figuren ihren Kopf verloren, den man seitdem mehrmals ersetzt hat. Nun hat der Südtiroler Künstler Walter Moroder zeitgenössische Holzköpfe gestaltet, die gut mit der Figur harmonieren. Wenn so etwas gelingt, beeindruckt mich das.“

Stil­ler Ort für Aus­zei­ten


Wenn die Museumsdirektorin Zeit hat, genießt sie gerne die Stille in jenem Kreuzgang, der den Innenhof und die berühmte Rose rahmt und der jederzeit eine Auszeit vom geschäftigen Treiben in der Stadt ermöglicht. Der Eintritt ist frei. Im Gegensatz zur Michaeliskirche und zum Dom ist dieser Kreuzgang gut erhalten geblieben – er ist wirklich noch alt. Zehn Meter rankt das dornige Gewächs mittlerweile am Gemäuer empor. Dass es die Zerstörung 1945 überlebt hat, erschien den Menschen nach der Befreiung von der Nazidiktatur wie ein Wunder (Kunstwerke wie die Bronzetür waren schon seit Anfang der 1940er-Jahre ausgelagert worden).  Im Winter sorgt diese Hildesheimer Überlebenskünstlerin mit ihren Hagebutten für Farbtupfer. Im Frühsommer trägt sie zahllose rosa Blüten, mit denen sie die Menschen seit vielen Jahrhunderten verzaubert. Was diese Rose wohl alles gesehen hat? Und: Wie viele Gläubige gingen durch die schwere Bronzetür? Auch die goldene Madonna mit ihrem Jesuskind im Arm hat bestimmt schon vielen Menschen Trost gespendet. Mit ihren aktuell gestalteten Gesichtern von Maria und ihrem Sohn sieht sie jedenfalls selbst wie eine Zeitreisende aus.